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12 in 12 – Kiesel oder Sand?

Sieben Kilometer lang ist der Strand in Nizza. Sieben Kilometer wunderschöner Sandstrand. Doch halt. Sandstrand? Nein. Kein Sand weit und breit. Erschüttert stehen die Touristen am Rand der Promenade des Anglais und blicken auf das türkisblaue Wasser und die Ansammlung kleiner gräulicher Steine, die hier aufgehäuft sind.

Galets du Var heissen die runden Dinger, die es unmöglich machen, elegant aus dem Wasser zu stolzieren und das Erbe von Ursula Andres und Daniel Craig anzutreten. Ohne Strandmatte kann man sich hier nicht in der Sonne braten lassen, sonst fühlt man sich wie ein Fakir auf dem Nagelbrett.

„Nizza ist so schön, wenn es doch nur einen Sandstrand geben würde“ höre ich immer wieder. Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, was der ganze „fuss“ mit dem Sand ist. Was ist den so toll an diesen kleinen Körnern, die sich überall festsetzen, die mir bei der kleinsten Windböe ins Gesicht stäuben und die es unmöglich machen, etwas am Strand zu essen, ohne dass es auf meinen Zähnen knirscht, wenn ich mit riesen Hunger ins gerade frisch gemachte Sandwich beisse. Einfach nur eklig.

Ich mag die Galets du Var. Sie sind wunderschön anzusehen, einfach sauber zu halten, wehen mir nicht die ganze Zeit ins Gesicht und sind der Grund, warum das Wasser so schön türkisblau leuchtet, als ob wir hier mitten in der Karibik schwimmen gehen. Einen sieben Kilometer langen Strand direkt vor der Grossstadt, mit Wasser, das fast das ganze Jahr über 20 Grad warm ist. Das ist in Europa einmalig.

Ich habe nicht alle Tassen im Schrank? Sand gehört einfach dazu, wenn man ins Meer geht und die beige Farbe löst sowas warmes und wohliges aus und lässt einen von fernen Ländern und exotischen Abenteuern träumen? Von mir aus. Zeigt es mir. Sagt mir Eure Meinung!! Doch ich finde, dass Sand total überbewertet ist.

Die Einheimischen sind stolz auf ihre Galets. Seit der Flughafen direkt am Meer gebaut wurde, klappt es jedoch nicht mehr mit dem natürlichen Auffüllen der grossen Kieselsteine, denn die Strömung der Var sorgt nicht mehr automatisch fürs Auffüllen. Tag für Tag verschwinden tausende von Galets im Meer und müssen wieder angeschleppt werden. Es kommt der Stadt teuer zu stehen, die Steine tonnenweise sozusagen per Hand herzukarren. Doch es ist es wert. Die Galets sind mittlerweile zum Wahrzeichen der Stadt geworden – und so soll es auch bleiben.

 

12 in 12 – Friedrich Nietzsche fand es in Nizza auch toll…

Anfang 1883 kam der deutsche Philosoph und Philologe Friedrich Nietzsche (Gott ist tot) das erste Mal nach Nizza, wo er den 3. Teil des Zarathustra vollendete.  Er blieb fünf Monate, verliebte sich in die Stadt und kam die nächsten vier Winter  zurück. Nie sei er seinem Ziel, die Welt zu verändern, so nahe gekommen, wie in Nizza, soll er gesagt haben. Hier dachte er schon über Antisimetismus und die Erstarkung des Deutschnationalismus nach.

An der Rue Catherine Segurane 38, ganz in der Nähe des Hafens, mietete er ein einfaches Zimmer. Er spazierte oft durch die engen Gassen der Stadt und wanderte gerne den Chemin de Nietzsche (damals hiess er natürlich noch nicht so) von Eze Bord de Mer nach Eze Village den Berg hinauf. In der Sommerhitze ist das kein Zuckerschlecken. Doch in den Wintertagen, in denen Nietzsche hier war, kann ich mir so richtig vorstellen, wie gedankenöffnend so ein Spaziergang den steilen Bergweg hinauf gewesen sein dürfte.

Nietzsche widmete sich in Nizza seiner Lieblingsfrage und zwar der Frage des Werts von moralischen Systemen. Oft wird er als der Atheist und Nihilist schlechthin bezeichnet.Das wird allerdings von einigen seiner Kenner vehement bestritten. Doch genug über Nietzsche.

Warum erzähle ich das überhaupt? Was ist die Relevanz dieser kleinen Anekdote und gibt es etwa Parallelen zu meiner eigenen Reise?

Auch ich habe Nizza, wie Nietzsche, ins Herz geschlossen.  Seit über zehn Jahren besuche ich die Stadt an der Côte d’Azur mehrere Male im Jahr (take that Mr. Nietzsche). Zwar wurde hier noch kein Weg nach mir benannt und wird das auch nie geschehen. Doch egal. Die Stadt strahlt so eine beruhigende Ruhe aus, die mir gut tut. OK, Nietzsche hat gesagt, dass er nirgends so nahe dran war, die Welt zu verändern, wie in Nizza. Da kann ich nicht mithalten. Doch immerhin kann ich von mir und meiner Beziehung zu  Nizza behaupten, dass ich nirgends so nahe dran war, mich selber zu finden, wie in Nizza. Das ist doch auch schon mal was, oder?

12 in 12 – Gegensätze ziehen sich an und stossen sich ab

Auf kaum einen Stadtteil in Europa schaut man mit so viel Begeisterung und gleichzeitig  Entsetzen wie auf Kreuzberg.

Alles begann 1959 in der Oranienstrasse mit der Galerie „Zinke“, die der Schriftsteller und Maler Robert Wolfgang Schnell, der Lyriker und Holzschneider Günter Bruno Fuchs, der Maler Sigurd Kuschnerus und der Bildhauer Günter Anlauf 1959 gründeten.

Wenn in der „Zinke“  Robert Wolfgang Schnell Dada-Pamphlete vortrug oder der Blechtrommler Günter Grass las – vor Publikum, das aus der ganzen Stadt anrückte, konnte es vorkommen, dass sich übel gesonnene Hausbewohner gegen den Lärm wehrten, in dem sie ihre Plattenspieler laut aufdrehten und der „Babysitter Blues“ durch den Hinterhof dröhnte.

Der „Kreuzberger Montmatre“ war die Begriffsprägung dieser Zeit, die auch international reüssierte und sowas wie den ersten Kreuzberg-Mythos darstellt: das Boheme-Viertel im Kleine-Leute Bezirk, nicht so schick wie sein Pariser Pendant, sondern gekennzeichnet vom Mief und Dunkel der Hinterhäuser und dem Gestank von abgestandenem Bier und kaltem Zigarettenrauch.

Die alten Berliner, häufig selbst einmal aus Schlesien oder Pommern zugezogen oder als Flüchtlinge nach dem Krieg in den Kiez gekommen, zehren von den überkommenen und inzwischen brüchig-gewordenen Strukturen der Stadtteil-Vergangenheit.

Die seit 1964 nach Berlin geholten so genannten „Gastarbeiter“  – mehrheitlich aus der Türkei – holten ihre Familien nach und fanden in den billigen Altbauquartieren Kreubergs Wohnungen auf Zeit. Sie versuchten, in Kreuzberg ihre alte Heimat wieder aufzubauen.

Und dann – im Gefolge von 1968 – kommen jungen Leute nach Kreuzberg, ausgerissen aus der Enge westdeutscher Kleinstädte, angezogen vom revolutionären Gedanken und vom neuen antiautoritären Lebensgefühl in der Mauerstadt: Studenten, Bundeswehrflüchtlinge, Abenteurer, Musiker, Künstler. Anders zu sein als die Eltern, das Neue zu wagen, nie Gekanntes auszuprobieren, gesellschaftliche Zukunftskonzepte ausmalen und  sofort und jetzt zu leben.

Das “andere Leben” hier verspricht Selbstverwirklichung. Galerien, Kneipen, Off-Theater – der Kreuzberg-Kosmos. In den 80er Jahren kippt das Image: Kreuzberg steht nun für Randale und Strassenschlachten zum “1. Mai”, für Gewalt und Gegengewalt.

In Kreuzberg treffen Gegensätze aufeinander. Die ehemaligen Gastarbeiter, die mittlerweile in der zweiten und dritten Generation hier sind, die alten Berliner, die hier zu Hause sind und nie wegziehen würden, die Künstler, Hänger, Revoluzzer und Randexistenzen und dann natürlich mittlerweile die Hipster und Kreativen aus ganz Europa, die dem Ganzen eine neue Würze geben.

Ein Melting Pot ist dies dennoch nicht unbedingt. Hier wird eher nebeneinander als miteinander gelebt. Doch das wichtigste: Man lässt sich gegenseitig in Ruhe und lässt Freiräume offen. Toleranz an jeder Ecke. Ich hab hier noch keine Streitereien über die kulturellen Grenzen hinaus gesehen. Kreuzberg lebt, und wie!

12 in 12 – Döner und nicht Currywurst

Nicht die Currywurst, sonden der Döner ist das Leibgericht der Berliner. In der deutschen Hauptstadt gibt es 1200 Imbissstände, die Döner anbieten. Dazu kommen nochmals rund 1000 Restaurants, die den Döner auf der Karte haben. Gemäss Currywurst-Museum (ja, sowas gibt es in Berlin) stehen der Übermacht der Dönerbuden lediglich 170 Currywurst-Stände gegenüber.

Meinen Döner esse ich fast immer bei Imren, der in einer Seitenstrasse des Kottbusser Damms die besten Fleischspiesse der Stadt anbietet.  Nicht nur das Brot, sondern auch die Saucen und der Spiess sind “handgemacht” und schmecken einfach traumhaft. 3 Euro lege ich dafür auf den Tisch, der Tee ist umsonst und ein Ayran kostet gerade mal 50 Cent.  Alternative: Tuna’s Gemüsekebap im Wrangelkiez. Halt, keine Angst; das ist nicht wirklich ein Gemüsekebap, sondern ein Kebap mit Hühnchen, Kartoffeln und etwas Aubergine mit super leckeren Saucen und sonstigen Köstlichkeiten gespickt.

Die Berliner behaupten übrigens auch, dass sie den Döner erfunden haben. Anfang der siebziger Jahre soll entweder am Kottbusser Damm oder am Zoo der erste Döner verkauft worden sein. Ein Gastarbeiter hatte die Idee, das geraffelte Fleisch mit Zwiebeln in ein Brot zu stecken. “The rest is history”.

Oder doch nicht? Gemäss den Geschichtsbüchern soll in der Türkei schon Mitte des 19. Jahrhunderts Fleisch im Brot serviert worden sein. Dieser Schisch Kebab wurde aber noch auf einem üblichen horizontalen Grill zubereitet. Etwas später soll ein Koch namens Hamdi in Kastamonu erstmals geschichtetes Fleisch an einem senkrecht stehenden Spiess gegrillt haben.

Wie dem auch sei. Heute gibt es in Berlin auf jeden Fall mehr Dönerbuden als in Istanbul. Wie bitte, ihr glaubt, dass nicht der Döner, sondern McDonald’s der König von Berlin ist, wenn es um Fast Food geht? Auf keinen Fall. In Berlin gibt es lediglich 60 McDonald’s-Restaurants. Ein Klacks gegen die 1200 Dönerstände.

 

12 in 12 – Schnauze Berliner Schnauze

“Wenn Du nicht gleich los fährst, dann hau ich dir eine in die Fresse!” Keine zwei Sekunden war es grün an der Ampel – keine zwei Sekunden und schon drängelt sich der Fahrradfahrer hinter mir an mir vorbei, touchiert mich dabei und schreit mich an wie ein Bekloppter.

Kein Einzelfall in Berlin. Von den Einheimischen wird das immer verniedlichend mit der Berliner Schnauze gerechtfertigt. Man sei hier eben direkt und “no bullshit” und so. Daran müsse man sich gewöhnen. Naja, “dann hau ich dir einn in die Fresse” find ich gar nicht so niedlich und Charme hat das überhaupt keinen.

Anderer Tag, andere Situation. Ich bin im Kaufhaus des Westens, dem Luxus-Shoppingtempel Berlins am Kuhdamm schlechthin. In der wunderschönen Lebensmittelabteilung will ich mir was zu trinken kaufen. Gleich neben der Flasche Mezzo Mix, die ich mir schnappen will, steht ein Angestellter, der gerade das Regal auffüllt. Er rollt erstmal mit den Augen, als ich versuche, mir die Flasche zu nehmen und brummt sich etwas äusserst unfreundliches in den Bart. Wie konnte ich nur wagen, ihn beim Einräumen des Regals zu stören? So eine Unverfrorenheit von mir. Ich bin ja hier nur der Kunde und er arbeitet nicht bei Aldi, sondern im Vorzeigetempel Berlins, dem Kaufhaus des Westens. Am liebsten hätte er mir wohl auch eine in die Fresse gehauen.

Und weil alle guten Dinge drei sind, hier noch ein Beispiel der ach so entzückenden Berliner Schnauze. Ort des Geschehens: Der Supermarkt. Problem: Ich frage, wo denn die Cola steht. “Dahinten” sagt der Verkäufer total genervt. Na das ist ja eine genaue Angabe. Ich nehme doch an, dass es dahinten ist, wenn ich an der Kasse frage, und es sozusagen nur dahinten gibt. Ich gehe nach rechts und werde sofort gestoppt. “Na wie doof biste eigentlich. Nicht rechts, sondern links du Arsch.” Na klar. Berliner Schnauze. Das ist alles nicht so gemeint, sondern gehört zum Charakter.

In allen zehn bisherigen Städten von 12 in 12 zusammen habe ich nicht so aggressive Reaktionen erlebt. Auch nicht in den notorisch als unfreundlich bekannten Städten wie New York und Paris. Was ist denn bloss los, ihr Berliner?

Ja, OK. Jetzt hab ich mir meinen Frust von der Seele geschrieben und muss der Gerechtigkeit halber auch noch sagen, dass die Leute hier auch sehr nett sein können. Die grosse Mehrheit ist total freundlich und nimmt sich im Zeit für dich. Doch einige haben es nicht verstanden, dass wir hier alle zusammen leben und Aggression nicht der Weg ist, durch den Tag zu gehen und die Berliner Schnauze keine Entschuldigung für ungehobeltes Benehmen ist.

12 in 12 – Verstehen, wie schlimm es sein kann

Berlin ist so multikulturell wie keine andere deutsche Stadt. Türken, Kurden und Syrer wohnen hier in Kreuzberg Schulter an Schulter. Im Moment laufen in Berlin im Kino zwei Filme, die das Leben in diesen Ländern in einer Form zeigen, wie ich sie noch nicht gesehen habe. Bei beiden Werken bin ich bis zum Ende des Abspanns sitzen geblieben, was ich sonst nie mache. Ich möchte Euch diese Filme gerne ans Herz legen.

Insyriated

Philippe Van Leeuws “Insyriated spielt in Damaskus. Schauplatz ist die Wohnung der Familie Yazan. Nur zweimal wagt sich die Kamera in den Hausflur. Sonst bleibt sie in der Wohnung, deren Vorhänge fast immer ganz geschlossen sind.

Hier leben Oum Yazan, ihr Vater, ihr kleiner Sohn und die beiden Töchter im Teenageralter, der Freund der einen ist zu Besuch, das Hausmädchen kann wegen der Bomben nicht nachhause. Ein junges Paar mit Baby, das über ihnen gewohnt hat, ist nach Bombeneinschlägen auch noch eingezogen. Ansonsten ist das Haus leer. Ringsum fallen die Bomben.

Der Alltag ist schwer in der Wohnung. Todesangst ist allgegenwärtig Gewalt lauert um jede Ecke. Da zuzusehen ist ein beklemmendes Gefühl. Man wähnt sich selber in der Wohnung und stellt sich vor, wie man das alles verarbeiten würde. Das Ende der Welt in einer Wohnung in Damaskus. Dass man so nicht leben kann, ist wohl allen klar, die Insyriated gesehen haben.

 

Dil Leyla – Ein Dokumentarfilm

Leyla ist Kurdin, hat ihre Heimat als Kleinkind verlassen  und ist in Deutschland aufgewachsen. Mit 26 trifft Leyla Imret den Entscheid in ihre Heimat Cizre, eine Kurdenhochburg an der türkischen Grenze zu Irak und Syrien zurückzukehren. Sie zieht für die kurdenfreundliche, linksgerichtete HDP ins kommunale Parlament ein und wird zur jüngsten Bürgermeisterin des Landes gewählt.  Voller Hoffnung geht sie ans Werk und lässt Bäume pflanzen und Märkte renovieren. Sie will ihrem Volk, das sich immer nur im Krieg befand, eine bessere Zukunft geben. Bewundernswert. Doch wie das Leben eben so spielt kommt alles anders. Eine wahre, eindrückliche Geschichte.

12 in 12 – Xbeliebig aber doch bestimmt

Die kanadische Band Silver Pools spielt heute Nachmittag im XB in Friedrichshain. Das will ich nicht verpassen. Nirgends steht genau, wann die Sause anfängt und wer der Veranstalter ist. Doch ich glaube, dass es so um 4 Uhr an der Liebigstrasse 34 losgehen wird. Ich schwinge mich aufs Rad und fahre von Kreuzberg über das Warschauer Tor und den Frankfurter Platz zum XB an die Liebigstrasse 34.

Liebigstraße 34. Da ist sie. Das Haus ist anders, als die anderen. Nicht düster und grau, sondern farbenfroh angemalt. Das Xbeliebig sieht aus wie das typische besetzte Haus in Berlin und ist im Prinzip auch eines.  Ein grosses Plakat, das zu einer Vordemonstration vor dem G20-Gipfel einlädt, hängt aus dem einen Fenster. Parolen, die gegen eine Schliessung des Xbeliebig ankämpfen und auf der Fassade eine grosse Faust – keine, die schlägt, sondern kämpft für Toleranz und Freiraum. “Wir sind nicht käuflich ” ist in grossen Lettern darunter gemalt.

Na gut, das ist ja auch OK so. Von Äusserlichkeiten lasse ich mich sicher nicht abschrecken. Rein gehen tu ich natürlich trotzdem. Insgesamt macht das Ganze ja auch keinen unfreundlichen Eindruck, auch wenn es im Hof mächtig dunkel ist und ich nicht genau weiss, wo ich lang muss. Aus dem Eingang kommt mir eine der Bewohnerinnen entgegen. Kahl geschoren und mit einem Punk-T-Shirt. “Hallo, wo spielt denn die Musik?” frage ich. “Gleich um die Ecke” sagt sie. Ich gehe um die Ecke und lande in der Bar, an deren Ende eine kleine Bühne aufgebaut ist. “Wer hier diskriminierend behandelt wird, der meldet sich and er Bar. Wir sind für dich da” steht hinter dem Tresen. Die Bar ist noch leer. Ich setzte mich auf ein Sofa und warte. Eine halbe Stunde später. Von Silver Pools ist  noch nichts zu sehen, doch auf der kleinen Bühne stehen zwei Transgender Musiker, die wunderschöne sphärische Elektronik spielen und dazu singen.

Mittlerweile habe ich herausgefunden, wo ich mich hier genau befinde. Das Liebig 34 in Berlin-Friedrichshain ist eines der letzten noch existierenden autonomen, separatistischen Frauen, Lesben und Transgender Kollektive in Europa. Das Haus wurde 1991 besetzt und später legalisiert, was jedoch nichts am Selbstverständnis geändert hat, sich als festen Bestandteil des autonom-radikalen Spektrums zu sehen und einzubringen.

Im X-Beliebig kann man auch wohnen – vorausgesetzt man ist eine Frau versteht sich. Das schreibt das Liebig 34 auf ihrer Website über  seine Ansprüche:

Das Liebig 34 ist ein Ort, wo wir uns gegenseitig unterstützen und uns offensiv und vielfältig zur wehr setzen im Kampf gegen die allgegenwärtigen Entfremdungs- und Normierungsprozesse der kapitalistischen Gesellschaft. Feminist_in zu sein, bedeutet für uns nicht nur die Unterdrückung von Frauen sondern von allen Menschen, die unter dem heteronormativen Normalzustand dieses Systems zu leiden haben, ernst zu nehmen. Wir verstehen uns als Schutzraum im Kampf gegen Hierarchien, Vorurteile und Unterdrückung.

Die erste Band hat ihr Konzert in der Zwischenzeit beendet und Silver Pools ist dann doch da. Alle hören andächtig zu und keiner schaut mich hier schräg an, obwohl ich nicht so angezogen bin, wie die Meisten hier drin. Ich fühle mich zu keiner Zeit unwohl und durchaus willkommen. Es ist friedlich hier.

Besetzte Häuser und Freiräume. Berlin ist eine der wenigen Grossstädte Westeuropas, die sowas noch bietet. Anders sein ist hier absolut OK und das finde ich schön. Leben und leben lassen ist meine Devise. Solange man die Ansprüche, die man an Andere stellt auch an sich stellt, ist das für mich absolut in Ordnung. Gesetzlich gesehen gibt es in Berlin im Prinzip keine richtigen besetzten Häuser mehr. Irgendwelche Verträge haben die meisten Bauten legalisiert.

Das Xbeliebig ist trotz der Legalisierung wieder bedroht. Ein Investor ist drauf und dran, das Haus zu kaufen. Wenn ihm das gelingt, steht eine Räumungsklage ins Haus. Doch noch gibt es das Liebig 34 und noch wird hier Kunst und Kultur gemacht, die sich an alle richtet. Es würde sicher so manchem von uns mal gut tun, hierher zu kommen, um Vorurteile abzubauen. Es geht hier nicht um Randale, sondern um Akzeptanz. Das hätten sich die Chaoten, die in Hamburg rund um den G20-Gipfel unter dem Vorwand, die Welt retten zu wollen, sinnlos Läden ausgeräumt und Autos angezündet haben, mal als Vorbild nehmen sollen.

Ach ja, und das ist die wunderschöne Musik von Silver Pools, denen ich den Ausflug ins Xbeliebig zu verdanken habe:

12 in 12 – Let them eat cake!

Kuchen oder Brot? Egal. Das meinte schon Marie Antoinette, die Frau von Louis XVI. Sie wurde durch das Zitat: “Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie eben Kuchen essen” berühm und berüchtigt. Dass sie das nie gesagt hat, interessiert heute nur noch die Geschichtsforscher. Erstens heisst es im Original aus Les Confessions von Jean-Jaques Rousseau; “Dann sollen sie Brioche essen” und nicht wie immer wieder falsch übersetzt wird “Kuchen”, und zweitens schrieb Rousseau das Zitat lediglich einer grossen Prinzessin und nicht Marie Antoinette  zu. Marie Antoinette war zur Zeit der Veröffentlichung von Les Confessions erst zehn Jahre alt und noch keine grosse Prinzessin.

Soviel zur Historie. Keine Frage. Ich habe eine Schwäche für gute Backwaren und himmlische Patisserie. Genauso wie ich die Italiener nicht ausstehen kann, die behaupten, dass guter Kaffee nur in Italien serviert wird, kann ich aber auch die Franzosen nicht riechen, die ein Eclair nur dann überhaupt probieren, wenn es in Frankreich hergestellt wurde oder wenn der Bäcker immerhin Franzose ist.

Ich bin der Meinung, dass sich in jeder Grossstadt Patisserien finden lassen, die genauso gute Süssigkeiten herstellen, wir die Franzosen. Doch eines muss ich den Franzosen lassen. Während ich in allen anderen Städten zuerst mal drei Nieten ziehe, bis ich die richtige Bäckerei ider Konditorei  gefunden habe, gibt es in Paris Boulangerien und Patisserien en masse. Oft sind es zwei bis drei oder gar vier im gleichen Strassenzug innerhalb von 100 Metern – eine  meist besser als die andere.

Kleiner Einschub, um Verwirrung zu vermeiden: Eine Boulangerie ist übrigens auf Brot und einfaches Gebäck spezialisiert. Manchmal bietet die Boulangerie  auch Sachen wie Millefeuille, Eclairs und Früchtetörtchen an. Doch die sind oft eher zweitklassig. Auch Sandwiches und Getränke sind beim Boulanger im Angebot.Eine Patisserie ist auf gut  Deutsch eine Konditorei und ist somit ausschliesslich auf Feingebäck spezialisiert. Ihr wisst schon, was ich damit meine.

Hier sind meine Favoriten, in Paris aus der Welt der Patisserien unterteilt nach ihren Spezialitäten:

Eclair

Eigentlich mag ich keine Eclairs. Wenn bei uns an der Kuchentheke nur noch das Eclair übrig war, dann bin ich jeweils wieder aus dem Laden gelaufen. Doch seit ich weiss, wie ein richtiges Schokoladen-Eclair schmecken muss, liebe ich die Dinger. Das Beste gibt es im Stohrer, der ältesten Patisserie von Paris (seit 1730 im Geschäft). Lasst Euch nicht davon täuschen dass hier auch  Touristen ein- und ausgehen. Die Eclairs sind grandios.

Lemon Meringue

Das beste Lemon Meringue gibt es bei Karamel. Der Bäcker macht alles in Perfektion und hat so gut wie alle Preise gewonnen, die man gewinnen kann. Während Lemon Meringue sonst schon mal zu süss sein kann, ist hier alles in Perfektion ausbalanciert. I want one!!!

Saint-Honoré

Die etwas abgewandelte Version des französischen Klassiker macht Pain Pain so wie kein Anderer. Lecker.

Millefeuille

Ein Millefeuille hat aber sowas von gar nichts mit einer Kremeschnitte zu tun. Der Teig ist so richtig erdig und nicht fast roh und die Vanillecreme ist komplex und nicht einfach Pudding. Carl Marletti kann das am besten.

Schokolade

Alain Ducasse ist für viele der beste Koch der Welt. In Paris stellt er in einem kleinen Laden (es gibt drei Filialen) Schokolade her. Die Tafeln sind nicht ganz billig. Doch es lohnt sich. Ja, Lindt ist auch nicht schlecht. Doch das hier ist nochmals eine andere Dimension.

12 in 12 – Boule das war gestern

Es gibt wohl nichts Französischeres als Boule oder genauer gesagt Pétanque. Das Spiel mit den grossen Metallkugeln, die möglichst nahe an die kleine Holzkugel geworfen werden müssen, ist aus dem Stadtbild von Paris und ganz Frankreichs nicht wegzudenken. Das Kugelspiel ist für mich das Sinnbild französischer Geselligkeit.

Doch halt. Was spielen dann die Leute da im Jardin des Tuileries? Das ist kein Pétanque und auch sonst kein Kugelspiel. Das sind Spielhölzer mit Nummern drauf, die durch den Wurf eines Wurfholzes umgeworfen werden. Diese Beobachtung ist in Paris kein Einzelfall. Die Spielhölzer laufen Boule den Rang ab. Ich sehe sie überall. Ganz Frankreich scheint nur noch mit nummerierten Holzpflöcken zu spielen.

Das Spiel heisst Mölkky und kommt nicht etwa aus Frankreich, sondern aus Finnland! Wer zuerst exakt 50 Punkte erreicht, der hat gewonnen. Besonders die jungen Pariser fahren total auf Mölkky ab. Man könnte gar sagen, Mölkky ist der totale Hipstersport – doch das lasse ich mal. Mölkky gibt es seit 1996 und die Franzosen haben den Sport nicht nur ins Herz geschlossen, sondern fast schon annektiert.  An den letzten Weltmeisterschaften haben sie denn auch prompt den Meistertitel geholt.

Mölkky macht total Spass. Es ist etwas Glück dabei aber auch eine grosse Portion Können. Versucht es doch mal. Eure nächste Sommerparty sollte auf jeden Fall nicht ohne Mölkky stattfinden. Besonders mit einer Flasche Rosé in der Hand trifft es sich ausgezeichnet. Mölkky-Fever in the House.

Hier noch die detaillierten Regeln:

Zu Beginn des Spiels werden die zwölf Spielhölzer einander berührend in Form eines stumpfen Dreiecks aufgestellt, das mit seiner „niedrigen“ Spitze zur Wurflinie zeigt.  Die Wurflinie ist drei bis vier Meter  von den vorderen Hölzern entfernt.

Nach jedem Wurf werden die Trefferpunkte nach folgendem Schema ermittelt, wobei als „gefallene Hölzer“ nur solche zählen, die nicht auf einem anderen oder dem Wurfholz aufliegen:

  • Fällt nur ein Holz, erhält der Spieler soviele Trefferpunkte, wie das jeweilige Holz repräsentiert (einen bis zwölf).
  • Fällt mehr als ein Holz, erhält der Spieler als Trefferpunkte die Anzahl der gefallenen Spielhölzer (zwei bis zwölf) – also unabhängig von den auf den Hölzern stehenden Zahlen.
  • Fällt kein Holz, erhält der Spieler null Punkte und den Vermerk eines Fehlwurfes. Als Fehlwurf zählt ebenfalls ein Übertreten der Wurflinie. Drei Fehlwürfe in Folge führen zum Ausscheiden des Spielers bis zum Spielende.

Die Trefferpunkte jedes Spielers werden zu seinem bisherigen Punktestand addiert. Erreicht ein Spieler dabei exakt fünfzig Punkte, gewinnt er, und das Spiel ist beendet. Übersteigt dagegen die Addition die 50-Punkte-Marke, so wird der Punktestand auf 25 zurückgesetzt und regulär weitergespielt.

 

12 in 12 – Rosen im Wasser von Giverny

Ich erinnere mich, als ob es gestern war. Es war Ende der achtziger Jahre. Ich stand in London’s National Gallery vor Claude Monet’s Bild der Seerosen unter der japanischen Brücke. Ich war hypnotisiert und tauchte ein ins tiefe Grün der Pflanzen und des Wassers. Ich hatte sie gefunden, meine Einstiegsdroge in die Kunst. Eine Droge, die mich nie mehr losgelassen hat.

Ich stieg zwar später auf andere Drogen um, auf Pollock, Richter, Abramovic, Sherman, Gurksy und Bacon. Monet war mir zu süss und zu Mainstream. Doch ganz verloren ging die Wirkung seiner Werke nie. Monet schafft es, wie wohl kein anderer, eine Unschuld und Ruhe zu kreieren, ohne dabei ins Seichte und Gekünstelte abzudriften.

Ich hatte mir nie wirklich Gedanken gemacht, wo Monet  seine Inspiration hergeholt und die Seerosen unter der japanischen Brücke gemalt hat. Wo sass er, gab es den Ort wirkich, und wenn ja in welcher Stadt und in welchem Land?

Ich hatte vom Garten in Giverny nie gehört. Umso faszinierter war ich, als ich davon erfuhr, dass der Garten in Giverny Monet nicht nur gehörte, sondern dass er dort jede einzelne Pflanze nach einem genauen Plan anpflanzen liess und oft auch selbst Hand anlegte.

Giverny liegt weniger als eine Autostunde von Paris entfernt. Der Garten ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Noch Fragen? Da musste ich hin. Die Brücke und die Seerosen nicht nur sehen, sondern spüren und erleben. Was kann schöner sein?

Ich möchte Euch nicht mit Einzelheiten langweilen. Doch wer hier in Giverny nicht zum Romantiker wird und wer hier nicht spürt, wie schön das Leben sein kann, dem ist nicht mehr zu helfen.

Ja klar, ihr müsst anstehen, um in den Garten zu kommen und allein werdet ihr nicht auf der Brücke stehen können. Doch all das ist egal. Wenn sich die Sonne im Wasser spiegelt, die Seerosen blühen, die Luft vibriert und die Bäume sanft im Wind rauschen, dann verstummen alle Nebengeräusche; dann gibt es nur Monet, die Rosen und dich. Dann kannst du hören, wie der Pinsel die Leinwand streichelt, die Farbe mit Sorgfalt gemischt wird und wie pure Magie entsteht. Dann ist alles im Einklang.

Insgesamt hat Monet 250 Bilder mit seinen “Water Lilys” in Giverny  gemalt. Eines grandioser als das Andere. Monet, der 86 Jahre alt wurde (1840-1926), malte die letzten 30 Jahre seines Lebens kaum ein anderes Motiv als seine Seerosen.

Monet war von seinem Anwesen in Giverny besessen. Er bezeichnete denn auch seinen Garten und nicht eines seiner Bilder als sein grösstes Meisterwerk. Da möchte ich dem Meister lieber nicht widersprechen.