Eine Fussgängerzone, eine Rockband, die auf einem von Betonwänden umzingelten Platz spielt, Kids, die rumsitzen und am Rande der Siedlung ein grosses, funkelndes Shopping Center. Ich bin in Berlin Marzahn–Hellersdorf – dem Stadtteil im Osten Berlins mit der grössten Plattenbausiedlung der Welt.
Es ist überraschend grün hier in Marzahn. Grosse Wiesen, Wälder rundherum und gar nicht so das düstere Bild, das man von einer Plattenbausiedlung in der Regel hat. Plattenbauten sind für mich der typische Baustil einer Grossstadtsiedlung in der ehemaligen DDR. Doch entstanden ist der Plattenbau weit davor.
Die Abkehr vom Historismus und seinen verspielten Formen und der Verzicht auf Dekoration und die Verwendung einheitlicher Materialien förderte ein uniformes Erscheinungsbild der Gebäude. Einheit und Gleichheit. Das war die Idee des Plattenbaus.
Die ersten Plattenbauten gab es in New York, genauer gesagt in Forrest Hills im Stadtteil Queens. Das war 1910. In Deutschland hielt der Plattenbau 1925 in der Frankfurter Siedlung und ein Jahr später in Berlin-Lichterberg Einzug. Auch Le Corbusier hatte seine Finger im Spiel. Der Verzicht auf Dekoration, fabrikgefertigte Einzelbauteile, die sogenannten Platten, machten den Bau schnell und für die damalige Zeit auch modern.
Viele der ersten Siedlungen sind architektonisch durchaus wertvoll und erinnern an das Prinzip der Funktionalität, das von der Bauhausbewegung gepredigt wurde. Dieses Prinzip nahm sich die Deutsche Demokratische Republik zum Vorbild, trieb es aber einen Schritt zu weit.
Mit dem staatlichen Wohnungsbauprogramm von 1972, das die Beseitigung des Wohnraummangels bis 1990 zum Ziel hatte, wurde der Plattenbau zum wichtigsten Neubautyp erhoben. Neue Stadtteile oder ganze Städte mit bis zu 100.000 Einwohnern, wie Halle-Neustadt, wurden meist gänzlich in Plattenbauweise errichtet. Im Rahmen des Wohnungsbauprogramms wurden insgesamt etwa drei Millionen Wohnungen neu gebaut oder saniert. In der DDR wurden die Bauten übrigens nicht Plattenbau, sondern ganz einfach Neubau genannt.
Während das Plattenbauprinzip im Osten Deutschlands, zumindest was den sozialen Frieden angeht, sehr gut funktioniert, werden die Siedlungen in Westdeutschland schnell zu sozialen Brennpunkten. Die Bewohnerstruktur der Siedlungen zeichnet sich teilweise durch höhere Arbeitslosigkeit sowie verstärkte Migrantenanteile aus. Diese Unterprivilegierung führt meist zu einer überdurchschnittlich hohen Kriminalitätsrate.
In den letzten Jahren werden in Deutschland und Berlin immer mehr Plattenbauten abgerissen und sollen neuen zeitgerechten Bauten weichen. Einige Plattenbauten werden jedoch auch saniert, wie hier in Marzahn. Die Gebäude sind neu verpackt, modernisiert und aufgepeppelt. Es schient gut zu funktionieren. Leere Wohnungen sind hier nicht auszumachen. Zwar steigt die Jugendkriminalität, besonders unter den 8 bis 14-jährigen in Marhzahn-Hellersdorf leicht an, hält sich aber insgesamt noch im Rahmen.
Nochmals zur Ausgangsfrage. Waren Plattenbauten ein architektonisches Verbrechen oder eine geniale Vision der Zukunft? Ich lege mich da mal nicht ganz fest. Optisch finde ich diese riesigen Bauten schon ein Dorn im Auge und somit sind sie visuell sicher mehr Verbrechen als Vision. Doch in der Nachkriegszeit und angesichts der akuten Wohnungsnot gab es wohl keine bessere Lösung.
Noch ein kurzer Seitenblick. Rund um den Alexanderplatz in der Mitte von Berlin gibt es unzählige Plattenbauten. Einige davon sind mittlerweile extrem beliebt. Hipster, Journalisten, Künstler, Harz-4-Empfänger und ein paar Alteingesessene wohnen hier Schulter an Schulter. Die geniale Aussicht, die zentrale Lager und die erschwinglichen Mieten sind kaum zu schlagen. Die Platte und ihre strenge Ästhetik wurde zumindest hier rehabilitiert.