Die Ravioli wurden in Nizza erfunden. Schon als ich das erste Mal an die Côte d’Azur kam, hatten mir das die Einheimischen stolz erzählt. Nicht etwa in Neapel oder in Rom oder irgendwo anders in Italien, sondern hier in Nizza kam jemand auf die glorreiche Idee, Pasta mit einer köstlichen Paste zu füllen und sie dann Ravioli zu nennen.
Nie hatte ich angezweifelt, dass dem nicht so sein könnte. Schliesslich gibt es in Vieux Nice an jeder Ecke ein Geschäft, das frische Ravioli produziert (das Beste ist übrigens Maison Barale). Noch viel wichtiger, um die Ravioli-These zu unterstützen ist, dass Nizza bis 1860 zu Italien gehörte – und dass Ravioli aus Italien stammen, das zweifelt doch wohl keiner an. Das wäre fast schon Blasphemie. Wie gesagt, Nizza gehörte lange Zeit zu Italien. Doch 1860 sprachen sich 99 Prozent der Stimmberechtigten für ein französisches Nizza aus. In Wirklichkeit war der Plebiszit aber inszeniert und der Urnengang manipuliert, glauben Historiker. Sie ordnen die Abtretung als Preis für die Verwirklichung von Giuseppe Garibaldis italienischem Einheitstraum ein. Die Grafschaft Nizza sei der Dank Italiens für die französische Unterstützung im Kampf gegen Österreich gewesen.
Doch egal. Nizza hat italienische Wurzeln und das erklärt auch, warum die Ravioli aus Nizza kommen. Nur zur Sicherheit: Blicken wir doch mal in die Geschichtsbücher. Schliesslich gibt es meist verschiedene Versionen der Geschichte. Den Bagel zum Beispiel beansprucht neben New York auch Montreal und London für sich und die Schokolade wurde auch nicht wirklich in der Schweiz erfunden.
Also, das Geschichtsbuch schreibt den Ursprung der Ravioli auf Francesco di Marco Datini zurück, der in seinem Geschäft in Prato in der Toskana schon im 14. Jahrhundert Ravioli angeboten hatte. Ein Jahrhundert später wurde das Rezept in Venedig im Libro per cuoco verewigt.
Auch in England! gibt es Aufzeichnungen, die im 14. Jahrhundert schon von Ravioli sprechen und zwar unter dem Namen Rauoles. Die sollen aus Malta oder aus Sizilien gekommen sein. Andere Quellen wiederum geben den Chinesen die Rechte an den Ravioli. Das wird den Italienern weh tun. Nicht nur die Spaghetti, sondern auch die Ravioli sollen aus China stammen. Die Spaghetti waren in China 3000 vor Christus erfunden worden. Nur schwer vorzustellen, dass nie jemand auf die Idee kam, diese zu füllen (habt ihr schon mal von Dumpings gehört?????? –
Also, alles kommt auch China – damals wie heute.
Nizza wird in den Geschichtsbüchern nicht erwähnt. Oder doch? Das Maison Barale macht seine Ravioli seit 1892. Wer die Einheimischen fragt, der hört, dass es schon im 17. Jahrhundert in Nizza ein Dutzend Raviolimacher gegeben haben soll. Was kreative Füllungen anbelangt, sei Nizza aber schon immer unschlagbar gewesen. Zudem sei die Perfektionierung des Prozesses und die Zusammensetzung des Teiges nirgends so schmackhaft wie in Nizza. Kreative Füllungen? Eigentlich gibt es nur eine Art richtiger Ravioli in Nizza und die wurde ohne Zweifel hier erfunden: Die Ravioli Nicoise. Das sind Ravioli mit Mangold und einer Art reduzierter Rindfleischeintopf (Daube). Alle anderen Zutaten sind für die Puristen verboten. Doch ich sehe das nicht so eng.
Einigen wir uns doch darauf, dass Nizza die kreative Heimat der Ravioli ist – China hin oder her. Damit kann wohl jeder Leben. Auf jeden Fall habe ich noch nie so gute Ravioli gegessen wie die Ingwer-Zitronen-Ravioli von Barale – und das ist im Endeffekt ja wohl entscheidend. Das Dutzend kostet übrigens gerade mal 1.30 Euro.