12 in 12 – To be or not to be

Das Tie-Break geht an Cagla Buyukakcay. Mit 7:1 hat die 28-jährige Türkin das Entscheidungsspiel im zweiten Satz gegen die 20-jährige Französin Oceane Dodin, die Nummer 72 der Welt, souverän gewonnen. Das Momentum ist klar auf der Seite  von Buyukakcay, der Nummer 86 der Welt. Der dritte Satz sollte für die Türkin nur noch Formsache sein. Die zweite Runde des Australian Open ist greifbar nahe.

Die Französin ist enorm verunsichert. Nach jedem Ballwechsel sucht sie den Blickkontakt zu ihrem Coach, der direkt neben mir sitzt. Immer wieder zupft sie ihr blauweisses Tenniskleid zurecht. Sie ist nervös. Oceane Dodin hat kaum Erfahrung in grossen Turnieren, geschweige denn in einem Grand Slam. Soll sie auf Angriff spielen oder lieber abwarten, bis die Gegnerin den Fehler macht? Nach dem enttäuschenden Tie-Break hat sie den Faden völlig verloren.

Buyukakcay merkt das und versucht, die Sache so schnell wie möglich klar zu machen. Sie schlägt auf und rennt sofort ans Netz. Doch Dodin parriert. Der Return knallt unerreichbar genau auf die Linie. Sie führt unverhofft 0:15. Ihr Trainer murmelt neben mir unaufhörlich und ruft immer wieder auf den Platz. Ist das nicht verboten, geht mir durch den Kopf. Doch auf den Aussenplätzen gibt es kaum jemanden, der das unterbinden würde. Wir sind schliesslich nicht auf dem Center Court.

Dodin wartet geschickt ab. Sie spielt nur mit und lässt die Türkin die Fehler machen. Die Strategie geht auf.  Sie schafft das Break zur 1:0 Führung. „Weiter so“, ruft ihr Coach. Schnell steht es im entscheidenden Satz 4:0. Buyukakcay ist stinkesauer und haut ihren Schläger mit voller Wucht auf den Boden. Das Racket bricht und sie schreit etwas Unverständliches Richtung Schiedsrichterin. Keine Verwarnung? McEnroe wäre für sowas damals wohl direkt vom Platz geflogen.

Plötzlich kommt die Türkin wieder in Fahrt. Ein Ass, ein Passierball, ein Aufschlagswinner und ein präziser Lob. 4:1. Jetzt den Aufschlag der Französin durchbrechen. Doppelfehler, Long Line Winner, Stoppball und Netzroller. Plötzlich steht es nur noch 4:2. Der Trainer neben mir rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Wieder der hilflose Blick seines 20-jährigen Schützlings. „Was soll ich jetzt machen“, steht in ihren Augen geschrieben.

Buyukakcay schlägt auf. Sie hat das Momentum auf ihrer Seite. Noch ein Aufschlagspiel durchbringen und dann das Break und schon ist sie wieder gut dabei. Der erste Aufschlag sitzt. Dodin bringt ihn nicht über das Netz zurück. Der zweite Return der Französin ist auch zu lang. 30:0. Jetzt platzt dem Trainer neben mir der Kragen. Sein Schützling ist drauf und dran, den sicher geglaubten Sieg noch aus der Hand zu geben. „Du musst die Punkte suchen”, schreit er. „Nicht abwarten. Du schaffst das“, doppelt er nach.

Die Punkte suchen. Das sass. Dodin geht offensiver ans Werk. Der erste Return geht wie an der Schnur gezogen der Outlinie entlang genau auf die Grundlinie. 30:15. Dann ein Volley ins Halbfeld, der für die Türkin unerreichbar ist – 30:30. Ein Doppelfehler führt zum Breakball. Auf dem Court wird es unruhig. Allen ist bewusst, dass das die Entscheidung sein würde. Fingernägel beissen, vereinzelte Zurufe und dann das Psssssst vom Schiedsrichter. Der Aufschlag kommt, der Return sitzt. Die Türkin erwischt ihn zwar noch, kann den Ball aber nur hoch und viel zu kurz zurückspielen. Dodin nimmt Mass und haut den Smash mit einer enormen Wucht genau auf die Linie. Das Game gehört ihr.

Der nächste Aufschlag ist nur noch Formsache. Sie gewinnt das Spiel und zieht mit 7:5, 6:7, 6:2 nach 2 Stunden 22 Minuten in die zweite Runde ein. Den Tränen nahe bedankt sie sich bei ihrer Gegnerin und schaut vollends glücklich zu ihrem Coach. „Gut gemacht!“ Auch er strahlt über beide Backen. „Das war nicht grosses Tennis, aber Hauptsache gewonnen“, murmelt er vor sich hin.

Die kleinen Schicksale sind oft viel interessanter als die Grossen. Wenn Stanislav Wawrinka am Australian Open eine Runde weiter kommt, dann verändert sich das Leben von Stan The Man kaum. Wenn aber auf Platz 15, ganz weit weg vom Glamour des Center Courts, Oceane Dodin mit ihren 20 Jahren ein Spiel am Australian Open gewinnt, dann verändert sich von einer Sekunde auf die andere ihr ganzes Leben. Statt beim nächsten Turnier wieder durch die Qualifikation zu müssen und dann bei weiteren Niederlagen zu riskieren, überhaupt nicht mehr eingeladen zu werden, ist Dodin jetzt wohl auch bei Roland Garros und Wimbledon im Hauptfeld dabei. Ein Spiel weitab des Glamours mit grosser Wirkung. “Sein oder nicht sein” in einem auf den ersten Blick hundsgewöhnlichen Erstrundenspiel in Melbourne.

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